Vom versicherten Arbeitsweg zum unversicherten Abweg

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  • Zitat

    Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 22.02.2024
    - L 10 U 3232/21 -

    Vom versicherten Arbeitsweg zum unversicherten Abweg

    Kein Wegeunfall in entgegengesetzter Richtung zur Arbeit

    Der Weg von der Schulwegbegleitung eines Kindes zurück zum Arbeitsweg ist nicht gesetzlich unfallversichert, wenn es sich um einen nicht aufgrund der Arbeitstätigkeit erforderlichen Umweg handelt. Dies hat das Landessozialgericht Baden-Württemberg entschieden.

    Eine Mutter begleitete vor Beginn ihrer Arbeit ihre Tochter aus Sicherheitsgründen zu einem Sammelpunkt. Von dem aus begab sich das Kind mit einer Gruppe von Mitschülerinnen und Mitschülern auf den restlichen Weg zur Grundschule. Dieser Sammelpunkt lag in entgegengesetzter Richtung zur Arbeitsstätte der Frau. Noch bevor sie den direkten Weg zwischen ihrer Wohnung und ihrem Arbeitsplatz erreicht hatte, erlitt sie beim Überqueren einer Straße einen schweren Unfall. Wegen dessen Folgen beanspruchte sie Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung. Dieser Sammelpunkt lag, von der Wohnung der Klägerin aus gesehen, in entgegengesetzter Richtung zu ihrer Arbeitsstätte. Auf dem Weg von dem Sammelpunkt zur ihrer Arbeit, aber noch vor Erreichen des Wegstücks von ihrer Wohnung zur Arbeit, wurde die Klägerin – als sie trotz einer roten Fußgängerampel eine Straße überquerte – von einem PKW erfasst. Sie erlitt unter anderem eine Gehirnerschütterung und verschiedene Knochenbrüche. Nachdem die zuständige gesetzliche Unfallversicherung die Anerkennung eines Arbeitsunfalls ablehnte, bekam die Klägerin vor dem Sozialgericht Stuttgart zunächst recht. Sie hatte insbesondere geltend gemacht, dass die Begleitung ihrer Tochter aus Sicherheitsgründen erforderlich gewesen sei.

    Eigenwirtschaftliche Gründe sind nicht gesetzlich unfallversichert

    Auf die Berufung des Unfallversicherungsträgers hat das LSG Baden-Württemberg die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die Klage abgewiesen. Ein Arbeitsunfall setze, wie der zuständige Senat klargestellt hat, u.a. voraus, dass die Verrichtung zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen sei. Die Klägerin habe sich zwar im Unfallzeitpunkt objektiv auf dem Weg zu ihrer Arbeitsstätte befunden. Dies sei freilich nicht hinreichend, denn das Überqueren der Straße am Unfallort zum Unfallzeitpunkt sei nicht auf dem direkten Weg zum Ort der versicherten Tätigkeit erfolgt, so dass der erforderliche sachliche Zusammenhang mit der Betriebstätigkeit fehle. Bewege sich der Versicherte – wie vorliegend die Klägerin – nicht auf einem direkten Weg in Richtung seines Ziels, sondern in entgegengesetzter Richtung von diesem fort, handele es sich eben nicht um einen bloßen Umweg, sondern um einen Abweg. Werde der direkte Weg mehr als geringfügig unterbrochen und ein solcher Abweg allein aus eigenwirtschaftlichen, also nicht betrieblichen Gründen – ebenfalls wie vorliegend – zurückgelegt, bestehe kein Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung. Die Klägerin habe auch bis zum Eintritt des Unfallereignisses die unmittelbare Wegstrecke zwischen ihrer Wohnung und der Arbeitsstätte noch nicht wieder erreicht. Der Wegeunfallversicherungsschutz sei damit zum Unfallzeitpunkt noch nicht erneut begründet worden. Es liege auch kein ausnahmsweise versicherter Abweg vor. Die Klägerin habe ihre Tochter nicht – wie für den gesetzlichen Unfallversicherungsschutz insoweit erforderlich – zum Sammelpunkt begleitet, um ihrer Beschäftigung nachzugehen, sondern allein und ausschließlich aus allgemeinen Sicherheitserwägungen zum Schutz der Tochter. Damit fehle vorliegend jeglicher sachlich-inhaltlich kausaler Zusammenhang zwischen der Beschäftigung der Klägerin und dem Begleiten der Tochter. Denn erfasst würden keine Fälle, in denen das Kind unabhängig davon in fremde Obhut verbracht werde, ob der Versicherte seine Beschäftigung alsbald aufnehmen wolle. Schließlich stelle auch die Begleitung der Tochter zu einem Sammelpunkt der Kinder-„Laufgruppe“, von wo aus die Grundschulkinder gemeinsam den Schulweg beschritten, schon kein „Anvertrauen in fremde Obhut“ im Sinne des Gesetzes dar.

    Liebe Grüße
    Micha


    Glück auf! *S&E*


    Nur Scheiße "passiert". - Unfälle werden verursacht!

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  • ... hätte sie also das Kind direkt an der - in entgegengesetzter Richtung zum Arbeitsplatz liegenden Grundschule abgegeben und wäre dann was an der Ampel passiert, dann wäre sie unfallversichert gewesen - da sie ja das Kind ja direkt in die Obhut Fremder (sprich Lehrer) gegeben hat.

    Also hat der Punkt Laufgruppe ihr da einen Strich durch die Rechnung gemacht - lese ich das so richtig?

    Oder betrifft das nun alle Konstellationen, in denen die Schule, Kita etc. in entgegengesetzter Richtung vom Arbeitsweg liegt?

    Beste Grüße aus Mainz

    E.weline

    Versicherung der Unsicherheit ist Sicherheit.

    Hanspeter Rigs (*1955), Dr. phil., deutscher Philosoph und Aphoristiker

  • ... hätte sie also das Kind direkt an der - in entgegengesetzter Richtung zum Arbeitsplatz liegenden Grundschule abgegeben und wäre dann was an der Ampel passiert, dann wäre sie unfallversichert gewesen - da sie ja das Kind ja direkt in die Obhut Fremder (sprich Lehrer) gegeben hat.

    Also hat der Punkt Laufgruppe ihr da einen Strich durch die Rechnung gemacht - lese ich das so richtig?

    Ich verstehe das auch so. Evtl hätte es genügt, dass ein Lehrer/eine Lehrerin die Schülergruppe am Sammelpunkt abholt.

    (Nebenbei: Die Dame wird vorläufig nicht mehr über rot gehen oder besser hinsehen ...).

    Arbeitsschutz ist wie Staubwischen.

  • Also ich lese das so, dass jeder dessen Schulweg nicht auf oder in Richtung des direkten Arbeitsweges liegt, sich auf einen "Abweg" begibt und damit nicht versichert ist.

    Quasi so:

    • Arbeitgeber liegt rechts - Schule in der Mitte- ich wohne links --> Umweg zur Schule versichert, da direkt vom Arbeitsweg abgebogen
    • Arbeitgeber liegt rechts - ich wohne in der Mitte Schule liegt links --> nicht versichert, da es nicht der direkte Weg zum Arbeitgeber ist

    Ist quasi ne A-Karte für alle deren Konstellation so ist

    Keine Demonstration verändert die Welt.

    Es ist die unpopuläre und stille Eigenverantwortung im Handeln jedes Einzelnen, die eine Wandlung in Bewegung setzt.:evil::saint:

  • Na ja, es ist halt nicht auf ihrem direktem Arbeitsweg, wobei dann der kleine Umweg nach rechts oder links zur Schule oder dem Sammelpunkt völlig egal wäre. Sie ist halt entgegengesetzt zurück gelaufen, was nur versichert wäre, wenn sie z. B. zwecks Homeoffice nach dem Wegbringen Ihres Kindes retour nach Hause gegangen wäre.

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  • Ich denke, ihr seid auf dem Holzweg ... (tolles Wordspiel ...;) )

    Der Knackpunkt ist, wenn ich die Urteilsbegündung richtig verstehe, nicht der Umweg, sondern der Grund für den Umweg

    Zitat

    Die Klägerin habe ihre Tochter nicht – wie für den gesetzlichen Unfallversicherungsschutz insoweit erforderlich – zum Sammelpunkt begleitet, um ihrer Beschäftigung nachzugehen, sondern allein und ausschließlich aus allgemeinen Sicherheitserwägungen zum Schutz der Tochter.

    Beste Grüße,
    Udo

    Sapere aude!
    (Horaz)

  • Der Knackpunkt ist, wenn ich die Urteilsbegündung richtig verstehe, nicht der Umweg, sondern der Grund für den Umweg

    Interessant. Ändert der Grund für den Umweg etwas an der Handlungstendenz der Mutter, ihrer Beschäftigung nachgehen zu können? Juristen-Logik war noch nie meine Sache. confused-squared

    Arbeitsschutz ist wie Staubwischen.

  • Holzweg :) - sehr gut

    Diesen Grund-Gedanken hatte ich zuerst auch, aber dann sind mir die ganzen Helikoptereltern eingefallen, wo der Sicherheitsgedanke mutmaßlich dem wirklichen Bedürfnis auf Grund der Weglänge überwiegt. Ich denke, wenn sie nach dem Sammelpunkt weiter direkt zu ihrem Arbeitgeber weiterläuft / -fährt, wäre die ganze Sache unstrittig ein Wegeunfall - unabhängig davon, ob sie nun ihr Kind begleitet und wegen der Weglänge die Tasche trägt oder rein aus der Sicherheitserwägung heraus. Durch den Rückweg war sie auf einem unversicherten Abweg statt auf dem versicherten Umweg. Oder befinde ich mich auf dem Irrweg?

    Aber egal: Es ist auch mal interessant, wie man selbst Begründungen aus unterschiedlicher Sichtweise heraus Interpretieren kann ;)

    .

  • Also, IANAL, Just my two cents:

    Das Gericht verwendet in seiner Begründung die Formulierung "allein und ausschließlich aus allgemeinen Sicherheitserwägungen zum Schutz der Tochter.", heisst, die Priorität Seitens der Mutter lag eben nicht im Willen, den Arbeitsplatz zu erreichen, sondern die Tochter sicher zum Treffpunkt zu bringen.

    Damit fehlt es IMHO, und, wie ich meine zu Recht, am haftungsbegründenden Zusammenhang.

    Hier würde ich auch die Helikoptereltern ansiedeln wollen. Primäres Ziel derer ist das Verbringen der Kinder, nicht der Arbeitsweg.

    Es ist halt auch wichtig, wie eine Unfallmeldung formuliert wird ...

    Beste Grüße,
    Udo

    Sapere aude!
    (Horaz)

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  • Die DGUV hatte dazu auch schon mal was veröffentlicht:

    Umweg zur Kita gesetzlich unfallversichert? – Arbeit & Gesundheit
    Vor der Arbeit Kinder in die Kita bringen: Zählt diese Fahrt als Arbeitsweg – auch wenn Beschäftigte einen Umweg fahren müssen? Jetzt erfahren
    aug.dguv.de
    Zitat

    Frage

    Wenn ich meine Kinder vor der Arbeit in die Kita bringe, zählt diese Fahrt als Arbeitsweg – auch wenn ich einen Umweg fahren muss?

    Antwort

    Ja, der „Umweg“ zur Kita zählt als Arbeitsweg. Versichert ist zwar nur der direkte Weg zur Arbeit, denn Wegeabweichungen aus privaten Gründen unterliegen nicht dem Versicherungsschutz.

    Weil aber auch ein Kind beim Besuch der Kita und auf dem Weg dorthin gesetzlich unfallversichert ist, liegt eine Fahrgemeinschaft versicherter Personen vor. Dabei sind Wegeabweichungen in den Versicherungsschutz einbezogen. Wird das Kind in eine unversicherte Betreuung gebracht, etwa zur Oma, liegt keine solche Fahrgemeinschaft vor. Trotzdem ist auch dieser „Umweg“ versichert – allerdings nur für das Elternteil, nicht für das Kind.

    Echt verwirrend.

    Ich lese da raus, dass im Fall des Bringens des Kindes zum Sammelpunkt dort keine Übergabe des Kindes in Obhut erfolgt und dies somit keine Fahrgemeinschaft versicherter Personen vorliegt...

    Das Kind hingegen ist auf dem kompletten Weg versichert?

  • Echt verwirrend.

    Nein, denn so wie ich das verstanden habe, kommt das Gericht zum Entschluss, dass ein 10 jähriges Kind problemlos alleine seinen Schulweg bewältigen kann und somit war das Bringen zum Sammelpunkt im eigenwirtschaftlichen Interesse.

    Zur besseren Lesbarkeit verwende ich in meinen Beiträgen das generische Maskulinum. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.

  • Hi,

    es gibt hier nicht den einen Knackpunkt, sondern mehrere Punkte, die zur Ablehnung der Anerkennung des Arbeitsunfalls geführt haben (wie den Entscheidungsgründen zu entnehmen ist).

    Problem 1: der Abweg statt des direkten Wegs zur Arbeit.

    Problem 2: die Begleitung der Tochter als privatwirtschaftliche Handlung. Es fehlt der innere Zusammenhang zur versicherten Tätigkeit.

    Problem 3: die Klägerin begleitet das Kind an jedem Schultag, nicht an jedem Arbeitstag. Das Kind in fremde Obhut geben ist jedoch nur gesetzlich unfallversichert, wenn dies "nur" wegen der beruflichen Tätigkeit erforderlich ist.

    Problem 4: die Kinder-Laufgruppe stellt kein Anvertrauen in fremde Obhut dar (dies jedoch nur als Anmerkung, da aufgrund der vorher aufgeführten Argumente bereits die Ablehnung des Arbeitsunfalls erfolgte).

    So weit meine laienhafte (bin ebenfalls kein Jurist) Interpretation der Entscheidungsgründe zum Urteil.

    schöne Grüße