Skalpiert!
Die Sortiererin Claudia G. (40) geriet mit ihrem langen blonden Pferdeschwanz in die Antriebswelle eines Paketbands. Sie überlebte schwer verletzt – bleibt aber für immer kahl
Es passiert um zwei Uhr morgens, drei Stunden nach Beginn der Nachtschicht. Seit drei Monaten arbeitet Claudia als Sortiererin am Paketband
Die Sortiererin Claudia G. (40) geriet mit ihrem langen blonden Pferdeschwanz in die Antriebswelle eines Paketbands. Sie überlebte schwer verletzt – bleibt aber für immer kahl
Wenn Claudia G. (40) morgens unter der Dusche steht, achtet sie darauf, dass das Wasser nicht über ihre Stirn läuft. Zu sehr würde sie der warme Strahl an das viele Blut erinnern, das damals über ihr Gesicht rann.
Wenn sie in die Küche geht, hat ihr Lebensgefährte das Brot schon geschnitten, denn das Geräusch der Schneidemaschine ist für sie unerträglich. Alles, was elektrisch angetrieben wird und sich dreht, ist für Claudia Horror – Rasenmäher, Küchenmixer, manchmal sogar der Staubsauger.
Dann kommen die Erinnerungen wieder hoch. Die Erinnerungen an den schrecklichsten Moment in ihrem Leben. Und daran hat auch die wöchentliche Sitzung bei dem Psychotherapeuten bis heute nichts geändert.
Es passiert um zwei Uhr morgens, drei Stunden nach Beginn der Nachtschicht. Seit drei Monaten arbeitet Claudia als Sortiererin am Paketband eines Kurierdienstes in Bad Hersfeld (Hessen), verdient knapp 600 Euro netto. „Einige Briefe waren vom Förderband gefallen“, erklärt die Mutter einer erwachsenen Tochter. Claudia beugt sich darunter, um die Briefe aufzuheben.
In diesem Augenblick gerät sie mit ihrem langen, blonden Pferdeschwanz in die elektrische Antriebswelle, wird mit ihrem Kopf in die Anlage hineingezogen. Sie hat keine Chance, an den Notschalter zu gelangen. Ein Kollege drückt den Knopf – doch der funktioniert nicht.
Claudia überlebt. Doch die Stahlwelle hat ihre Haare mitsamt Kopfhaut und der darunter liegenden Schwarte abgerissen, sie regelrecht skalpiert. Noch in derselben Nacht versuchen die Ärzte, ihren Schädel mit den Resten der gefundenen Hautfetzen zu rekonstruieren – vergeblich. Später, in einer Ludwigshafener Spezialklinik, wird Claudia Haut von ihrem Oberschenkel auf den Kopf transplantiert. Haare wachsen dort nie mehr.
„Sie war so stolz auf ihre langen blonden Locken“, sagt Peter (44), ihr Lebensgefährte.
Eine Spezialperücke, 2500 Euro teuer, kann Claudia nicht tragen, weil dann nach kurzer Zeit die permanenten Kopfschmerzen noch heftiger werden. „Mir bleibt dann nur noch ein Baumwoll-Turban als Kopfschmuck“, sagt Claudia.
Neben dem Verlust der Haare, der Lebensqualität und des Selbstwertgefühls hatte der Unfall für Claudia auch finanzielle Folgen. Sie ist mittlerweile seit fünf Jahren krankgeschrieben, zu 50 Prozent erwerbsgemindert. Ihre Rente: 378 Euro im Monat. Vor dem Sozialgericht klagt Claudia auf Erhöhung. Außerdem fordert sie von ihrem Arbeitgeber – der zugab, dass das Ausschalten des Alarmknopfes fahrlässig war – Schadenersatz und Schmerzensgeld.
Voll arbeiten wird Claudia G. wohl nie wieder können. Denn im Laufe der Zeit hat sich auch ihr Allgemeinzustand verschlechtert: Claudia G. kann Distanzen nicht mehr abschätzen.
Zettel mit der Aufschrift „Vorsicht“ oder „Achtung“ an Tischkanten und Schranktüren sollen sie warnen. Denn immer wieder passiert es, dass sie sich beim Aufräumen oder Kochen den Kopf stößt.Für Claudia lebensbedrohlich – an manchen Stellen ist ihre Schädeldecke nur noch zwei Millimeter dick.
Ihre langen Haare von einst haben die Ärzte ihr wiedergegeben. Der blonde Zopf liegt nun im Wohnzimmerschrank.
Quelle: BILD