Wie weit haftet ein Betriebsarzt?

ANZEIGE
ANZEIGE
  • Moin zusammen,

    der Thread mit dem Morphin, den ich durch meine Frage nicht verwässern wollte, bringt mich dazu eine relativ ähnliche Frage zu stellen.

    Folgender Fall: Einer unserer Mitarbeiter leidet an MS. Er wird kontinuierlich durch seinen Neurologen betreut, der mit unserem Betriebsarzt in ständigem Kontakt steht und der ihn auch regelmäßig untersucht - und ihm seine Arbeitsfähigkeit attestiert. Bis hier ist alles ok.

    Jetzt aber kommen die Arbeitsplatzbedingungen ins Spiel, die für den betroffenen MA leider auch nicht zu ändern sind. Der MA muss auf hohe Eisenbahnwagen klettern, um deren Entladung von einem dort angebrachten Steuerstand zu überwachen. Wenn die Baustelle klein genug ist (und kein anderer Kollege für diesen Einsatz abkömmlich ist), muss er das sogar allein machen. Selbst wenn er Kollegen auf der Baustelle hat - diese sind an anderer Stelle eingesetzt und können nicht ständig schauen, ob alles in Ordnung ist. Zudem ist er krankheitsbedingt in seiner Arbeit langsamer als die anderen, die das durch Mehrarbeit ihrerseits kompensieren müssen. Wie schon angedeutet, spielt sich das Ganze nicht an einem festen Arbeitsplatz mit stets gleichen Randbedingungen ab, sondern im Gleisbau, der schon allein für einen gesunden MA gefährlich genug ist.

    Kurzum: Vorgesetzte und MA vor Ort haben "Bauchschmerzen", wenn der Kollege auf der Baustelle eingesetzt wird. Der BA kennt aus langen Gesprächen eigentlich die Situation, dennoch schreibt er den MA aus medizinischer Sicht arbeitsfähig - und wir müssen ihn daraufhin einsetzen. (Ja, auch die Sache mit einem Ersatzarbeitsplatz haben wir, mit leider negativem Ergebnis, überprüft)

    Was passiert eigentlich, wenn Kollegen des MA dabei zu Schaden kommen, weil sie ihm auf der Baustelle helfen müssen? Haftet der BA dann auch, weil er den MA als Gefahrenquelle im Einsatz belässt, oder wird das Ganze dann der Firma zugeschoben?

    Bin gespannt auf Eure Meinungen.

    Gruß aus dem Norden

    nj 1964

    Planung bedeutet den Zufall durch den Irrtum zu ersetzen.

  • ANZEIGE
  • Moin,

    also, bei allem was ich nun von mir gebe: IANAL (= I am not a layer)!

    Ärztehaftung ist ein ganz besonderes Problem: Einen Arzt haftbar zu machen ist sehr schwierig, denn hier Schuldhaftigkeit nachweisen zu können, geht bei einem Behandlungsfehler meist nicht ohne Probleme. Wie sieht das dann erst aus, wenn es um die Abschätzung einer Situation geht?!

    Ich halte die Entscheidung des BAs für durchaus mutig. Aber er hat die sicher in Absprache mit dem Neurologen getroffen. Und der ist der Fachmann für diese Krankheit. Als Mitbetroffener macht man sich (zu Recht) so seine Gedanken. Aber dem Fachmann sollte man dennoch sinnhaftes Entscheiden und Tun unterstellen.(Ausnahme: Wenn die Fehlerhaftigkeit des Tuns offensichtlich ist.)

    Was mir hier fehlt, ist eine Aussage zum Beschäftigten, was dieser möchte. Vielleicht benötigt er ja zum Weiterleben die Arbeit und das meine ich jetzt nicht materiell.

    Wenn er eine Gefährdung für die Kollegen darstellt, dann wäre eine Intervention durch die Sifa sinnvoll und notwendig. Denn dies ist sicherlich eine Fragestellung, bei der die Sifa der Fachmann ist. Diese sollte dann am Besten gemeinsam mit dem BA die Situation unter dieser Fragestellung beleuchten. Gemeinsam deshalb, weil es sonst möglicherweise zu Fehleinschätzungen kommt: Sifa denkt Gefährdung, BA sagt, ist nicht so. (Als Beispiel kann die Einschätzung der MO-Wirkung im anderen Thread dienen.)

    Zusammenfassend würde ich sagen: Wenn die Beschäftigten und/oder Vorgesetzten Bauchschmerzen bei der Beschäftigung des Kranken haben, dann sollten die Vorgesetzen das bei Sifa und BA thematisieren, am Besten schriftlich. Eine Beurteilung des gesamten Arbeitssystems sollte dann erfolgen.
    Allerdings sollte sich jeder der Beteiligten bewusst sein, dass das Worstcase-Szenario die Kündigung des Kranken bedeutet.(Wichtig für die Festlegung des Grenzrisikos)

    Hardy

    P.S.: Die Frage der Ärztehaftung stellt sich mir hier nicht: Diese zu diskutieren würde bedeuten, dass das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist. Und das wollten wir doch eigentlich verhindern...

    Multiple exclamation marks are true sign of a diseased mind.
    (Terry Pratchett)
    Too old to die young (Grachmusikoff)

  • Moin Hardy,

    danke für die schnelle Antwort.

    Um die Informationen zu ergänzen: Der MA ist auf den Job angewiesen und will/muss ihn deshalb weitermachen. Eine solche Krankheit schmeißt jedem seine Lebensplanung über den Haufen. In Gesprächen mit ihm (GF, BR, BA) hat er deutlich gemacht, dass er sich selbst des Risikos bewusst ist.

    Weitere Gespräche (GF, BA, SiFa) haben dem BA die Arbeitsbedingungen und die Risiken auf der Baustelle verdeutlicht. Dennoch stützt sich m. E. dessen Einschätzung rein auf die medizinischen Befunde, ohne unsere Schwierigkeiten und Bedenken, die er ja aus den Gesprächen kennt, zu berücksichtigen. Sein Ziel ist es, ihm das Weiterarbeiten zu ermöglichen.

    Das Verhalten des BA könnte natürlich auch so ausfallen, weil sich unser MA bei den Ärzten immer super "verkauft" (Vermutung und unbewiesene Unterstellung) und damit dort ein völlig anderes Bild von sich zeichnet als bei uns. Das bekommen wir als Unternehmen wegen der ärztl. Schweigepflicht aber nicht mit.

    Gruß aus dem Norden

    nj 1964

    Planung bedeutet den Zufall durch den Irrtum zu ersetzen.

  • Hallo nj1964,

    zum einen hat die Firma eine soziale Verantwortung und sollte kranke oder behinderte MA nicht ausschließen. Leider wird diese Verantwortung von vielen Firmen mit Füssen getreten.Ein Ausgrenzen weil der MA die Arbeitsleistung nicht schafft ist
    ebenfalls unsozial, man bedenke, es kann jeden von uns treffen. Vor allem, was ist den mit den Kollegen die die Arbeitsleitung auch nicht schaffen z.B. aus Altersgründen etc., sollen die dann auch gehen?

    Nur die Ärzte und der Betroffene kennen den tatsächlichen Zustand des Kranken und nur sie können entscheiden ob der MA generell arbeitsfähig ist. Sollte etwas passieren ist der BA bestimmt nicht haftbar zu machen, da er den MA zum Zeitpunkt "X" beurteilt hat und für arbeitfähig gehalten hat. Veränderungen und plötzliche Schübe lassen sich nie bei einer solchen Krankheit 100% vorraus sehen.

    Wenn berechtigte Zweifel vorhanden sind, das es Gefahren für die Gesundheit des MA und/oder seiner Kollegen gibt, muss allerdings gehandelt werden. Ein gemeinsames Gespräch mit Betriebsrat, Betriebsarzt, MA, SiFa und Vorgesetzten wäre dann ein guter Schritt. Die Bedenken und Ergebnisse sollten auf jedenfall dokumentiert werden.

    Ich selber "durfte" früher (noch an der Werkbank) mit meinen Kollegen für einen Älteren und für einen Kranken mitartbeiten. Das iwar nicht schön, aber es gehört dazu.
    Denn nie vergessen, wir werden selber nicht jünger.

    Gruß aus dem Pott.
    Ruhrpott-Harry

  • Hi,

    eine weitere Frage ist noch, ob der Mitarbeiter offen genung ist und falls es ihm mal nicht gut geht, er es auch sagt.
    (Bei einer Multiplen Sklerose kann es zu sehr starken Tagesschwankungen kommen, daher kann es dem MA auch heute gut gehen und morgen schlecht. Und auch hier heisst es kann...)

    Und dann auch weder von Vorgesetzten noch Kollegen deswegen gemobbt wird.

    Falls der Mitarbeiter einen Schwerbehindertenausweis oder eine Gleichstellung hat, würde ich als Arbeitgeber mal versuchen mit den zuständigen Behörden zu reden.

    Für Minderleistungen kann es Ausgleichszahlungen geben, auch wenn er umgesetzt werden sollte, oder müsste, ggf. sogar die Fortbildungskosten.

    Das geht nun zwar weit über die Tätigkeiten einer SiFa hinaus, aber wenn man sich dort aus kennt, weiss man schon einiges.

    Grüße
    Lucy

  • ANZEIGE
  • danke für die schnelle Antwort.

    Gerne. Wenn ich Senf habe, bekommt den jeder aufs Butterbrot geschmiert... ;)

    Um die Informationen zu ergänzen: Der MA ist auf den Job angewiesen und will/muss ihn deshalb weitermachen. Eine solche Krankheit schmeißt jedem seine Lebensplanung über den Haufen. In Gesprächen mit ihm (GF, BR, BA) hat er deutlich gemacht, dass er sich selbst des Risikos bewusst ist.

    Sifa Lucy hat da noch einiges Bedenkenswertes geschrieben. Sind denn alle Möglichkeiten der sozialen Sicherung ausgereizt, gerade auch vom Rentenversicherungsträger?
    Sieh es mal so, auch wenn ich mich jetzt vielleich zu widersprechen erscheine:
    Er sollte einen Schwerbehinderungsgrad haben, mit der Gleichstellung hat er erstmal relativen Kündigungsschutz. Der RV-Träger ist immer interessiert daran, die Verscicherten in Brot und Arbeit zu halten. Ist der schon eingeschaltet? Der zahlt auch durchaus eine Umschulung, wenn die Sinn macht. Also, erstmal alle Möglichkeiten ausschöpfen.

    Weitere Gespräche (GF, BA, SiFa) haben dem BA die Arbeitsbedingungen und die Risiken auf der Baustelle verdeutlicht. Dennoch stützt sich m. E. dessen Einschätzung rein auf die medizinischen Befunde, ohne unsere Schwierigkeiten und Bedenken, die er ja aus den Gesprächen kennt, zu berücksichtigen. Sein Ziel ist es, ihm das Weiterarbeiten zu ermöglichen.

    Hier ist für mich in besonderem Maße eine mögliche Fremdgefährdung ein Thema. Und da hat dann der BA, wenn es nicht um eine mögliche Überlastung der anderen sondern um die anderen Gefährdungen geht, deutlich weniger mit zu kamellen.
    Aber auch die Eigengefährdung kann nicht zugelassen werden. Ggf. muss hier gegen den Willen des Erkrankten entschieden werden, um ihn zu schützen. Da hier aber auch der Arbeitsplatz gehärded ist würde ich schon die Latte des Grenzrisikos in die unsichere Richtung verschieben, zumal er das selbst so möchte. Aber wie weit, das kannst nur Du entscheiden, der Du das Arbeitssystem in allen Details kennst. Nein, entscheiden auch nicht, nur dahingehen beraten. ;)

    Das Verhalten des BA könnte natürlich auch so ausfallen, weil sich unser MA bei den Ärzten immer super "verkauft" (Vermutung und unbewiesene Unterstellung) und damit dort ein völlig anderes Bild von sich zeichnet als bei uns. Das bekommen wir als Unternehmen wegen der ärztl. Schweigepflicht aber nicht mit.

    Dann ist es sicher kein Verstoß gegen Datenschutz, ärztl. Schweigefpflich und was auch immer, wenn Du diesen Vorbehalt ganz offen dem BA kommunizierst.

    Gruß aus dem Norden

    Zurück aus dem Westzippel.

    nj 1964

    Hardy

    Multiple exclamation marks are true sign of a diseased mind.
    (Terry Pratchett)
    Too old to die young (Grachmusikoff)

  • Moin,

    ich hoffe, es ist nicht der Eindruck entstanden, dass der Kollege gemobbt oder ausgegrenzt wird. Seine Krankheit ist dem Unternehmen seit mindestens 5 Jahren bekannt. Trotzdem wird er wie jeder andere Mitarbeiter behandelt und keinesfalls ausgegrenzt (übrigens auch nicht im Kreis seiner Kollegen oder der Vorgesetzten).

    Leider ist die Krankheit nicht zum Stillstand gekommen, geschweige denn hat sich sein Gesundheitszustand verbessert. Dadurch werden die Gefahren bei der Arbeit natürlich auch für ihn und andere größer.

    Ich persönlich befürchte, dass es irgendwann nicht mehr geht - und niemand möchte, dass schon vorher etwas passiert. Aber wir sind in der Zwickmühle, dass der BA den Kollegen für arbeitsfähig erklärt und das Unternehmen zunehmend Probleme hat ihn sicher und sinnvoll einzusetzen, was es daraufhin ja auch tun muss um seiner sozialen Verantwortung nachzukommen - nur die Konsequenzen im Fall des Falles scheint dann das Unternehmen allein ausbaden zu dürfen.

    Gruß aus dem Norden

    nj 1964

    Planung bedeutet den Zufall durch den Irrtum zu ersetzen.

  • ich hoffe, es ist nicht der Eindruck entstanden, dass der Kollege gemobbt oder ausgegrenzt wird. Seine Krankheit ist dem Unternehmen seit mindestens 5 Jahren bekannt. Trotzdem wird er wie jeder andere Mitarbeiter behandelt und keinesfalls ausgegrenzt (übrigens auch nicht im Kreis seiner Kollegen oder der Vorgesetzten).

    Bei mir nicht. Schlielßlich gibt es auch berechtigte Belange der anderen Beschäftigten, die Berücksichtigung finden müssen!

    Leider ist die Krankheit nicht zum Stillstand gekommen, geschweige denn hat sich sein Gesundheitszustand verbessert. Dadurch werden die Gefahren bei der Arbeit natürlich auch für ihn und andere größer.

    Die Progression wird der entscheidende Faktor sein und wie weit eine relative Beschwerden-Rückbildung der schubfreien Zeit ist. Da kommt es vor allem auf den Typ der Encephalomyolitis disseminata = Multiple Sklerose an. Da gibt es verschiedene Verlaufsformen, verschieden vor allem in Progression und Zeit zwischen den Schüben.

    Auf wessen Aussage sollst Du dich also verlassen, wenn nicht auf den BA, der mit dem Neurologen in Verbindung steht?!

    Ich persönlich befürchte, dass es irgendwann nicht mehr geht - und niemand möchte, dass schon vorher etwas passiert. Aber wir sind in der Zwickmühle, dass der BA den Kollegen für arbeitsfähig erklärt und das Unternehmen zunehmend Probleme hat ihn sicher und sinnvoll einzusetzen, was es daraufhin ja auch tun muss um seiner sozialen Verantwortung nachzukommen - nur die Konsequenzen im Fall des Falles scheint dann das Unternehmen allein ausbaden zu dürfen.

    Nein, soweit geht die soziale Verantwortung nicht. Es gibt auch die Möglichkeit einer Verrentung, mit allen pekuniären Nachteilen.
    Aber jetzt mal ehrlich, ist das nicht ein Lebensrisiko in dem wir allen leben, vor dem wir uns hätten schützen können?
    Ich hatte Glück, mir hat man den Job der Sifa angeboten, auch ich könnte vor dem beruflichen Aus stehen. Aber zu Hadern hätte ich da mit meinem persönlichen Schicksal, weniger mit meinem Arbeitgeber.
    Du hast ganz klar zum Ausdruck gebracht, dass eine innerbetriebliche Umsetzung nicht möglich ist. Dann wurde getan was möglich ist, er wird weiterbeschäftigt. Sobald aber dadurch eine Eigengefährdung oder Fremdgefährdung entstehen ist "Ende der Fahnenstange". Auch wenn das im Endeffekt Hartz IV bedeutet. Der Einzelfall ist immer tragisch, aber es ist beileibe kein Einzelfall.
    Es zeigt nur wie wichtig die private Vorsorge und Absicherung ist, die schwierig bis unmöglich wird bei prekärer Beschäftigung. Aber sowas lässt sich nur mit Wahlen ändern, du als Sifa hast da keine Schnitte. Deshalb solltest Du Dir den Schuh auf keinen Fall anziehen, Du gehst sonst vor die Hunde...

    Also: Ihr habt gemacht was ihr konntet (?, wurde der RV-Träger eingeschaltet?), jetzt müsst ihr schützen, was auch immer das bedeutet.

    Hardy

    Multiple exclamation marks are true sign of a diseased mind.
    (Terry Pratchett)
    Too old to die young (Grachmusikoff)

  • ANZEIGE

  • /Schlaumeiermodus: Übersetzt: Ich bin keine Schicht!
    sagen wolltest du sicherlich dies: I am not a lawyer! (ich bin kein Rechtsanwalt)

    /schlaumeiermodus aus.


    Sonst schreibe ich ja auch nur IANAL. Da will man mal was erklären... Aber es kam mir eigentlich vom Anblick komisch vor, hätte ich mal besser Tante Gurgel bemüht...

    Hardy*shrug*

    Multiple exclamation marks are true sign of a diseased mind.
    (Terry Pratchett)
    Too old to die young (Grachmusikoff)