"Vorfälle" statt "Arbeitsunfälle und Beinahunfälle"

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  • In nach OHSAS 18001:2007 zertifizierten Betrieben reicht es (spätestens seit dem 1.7.2009) nicht mehr, nur Unfälle und Beinahunfälle zu erfassen und zu bewerten. Zu beiden Begriffen gibt es im Kapitel 3.9 keine eigenen Definitionen mehr. (In OHSAS 18001:1999 gab es noch eigene Definitionen für beide Begriffe.) Unfälle und Beinaheunfälle werden in OHSAS 2007 jetzt nur noch in den Anmerkungen zu "Vorfällen" erwähnt.

    Vorfälle sind arbeitsbezogene Ereignisse, die eine Verletzung oder Erkrankung (ohne Berücksichtigung der Schwere) oder einen tödlichen Unfall zur Folge hatten oder hätten zur Folge haben können. Erkrankungen sind erkennbare, nachteilige physische oder mentale Zustände, die durch eine Arbeitstätigkeit und/oder durch eine Arbeitssituation entstanden sind und/oder verschlechtert wurden. So jedenfalls will das OHSAS 18001.

    Was könnten nun solche Vorfälle sein, die keine "klassischen" Unfälle oder Beinaheunfälle sind?

    Das folgende Beispiel für Vorfälle aus der Praxis ist vermutlich für viele Arbeitsschützer gemessen an ihren bisherigen Erfahrungen zunächst nicht nachvollziehbar, aber es hat tatsächlich so stattgefunden: Nicht freigestellte Mitglieder eines Betriebsrates in einem größeren Unternehmen belasteten ihre Fachabteilungen, in der sie ihre Facharbeit leisteten, mit für die Fachabteilungen nicht nutzbarer Arbeitszeit (für Betriebsratsarbeit), ohne dass die Fachabteilung dafür eine Kompensation erhielten. Einige dieser Mitarbeiter benötigen bis zu 50% ihrer Arbeit für den Betriebsrat. Dann muss die Fachabteilung auch diese Arbeit praktisch mitbezahlen, ohne dafür fachliche Leistungen zu bekommen. Die Fachabteilung bezahlten also einen vollen Headcount, bekamen aber nur die Arbeit eines halben Headcounts. Fachabteilungen ohne Betriebsratsmitglieder hatten dieses Problem natürlich nicht. Daraus resultierten psychische Fehlbelastungen in mindestens zwei Punkten:

    • Auf die nicht freigestellten Betriebsratsmitglieder wirkt ein zum Teil erheblicher Druck von Vorgesetzten und gelegentlich auch von Kollegen.
    • Bei internen Bewerbungen lehnen potentielle neue Vorgesetzte eine Einstellung der sich bei ihnen bewerbenden nicht freigestellten Betriebsratsmitglieder ab, durften aber nicht offen sagen, das sie das aus wirtschaftlichen Gründen tun.

    Die nicht freigestellten Betriebsratsmitglieder fühlten sich ungerecht behandelt. Die Vorgesetzten fühlten sich ungerecht behandelt. Der Arbeitgeber hatte kein Interesse, den auf die Betriebsratsmitglieder und auch auf deren Vorgesetzte wirkenden Druck zu mindern. Der Arbeitgeber erhielt den Konflikt damit aufrecht und schwächte so nebenbei auch die betroffenen Betriebsratsmitglieder. Im Rahmen seiner unternehmerischen Freiheit hatte der Arbeitgeber eben das Recht, Arbeit so gerecht oder ungerecht zu kontieren, wie er wollte. Der Betriebsrat hatte keine rechtliche Handhabe, das zu ändern.

    Lösung: Der Betriebsrat ging nach mehreren vergeblichen Anläufen mit einem neuen Ansatz an das Problem heran. Er behandelte es als Arbeitsschutzthema, d.h. als einen Vorfall, der Mitarbeiter wegen des dauernd auf sie wirkenden und vermeidbaren Drucks krank machen könnte. Sieben Betriebsratsmitglieder reichten beim Arbeitsschutz eine offizielle Fehlbelastungsmeldung ein. Danach erwies sich, dass das Problem plötzlich recht einfach lösbar war: Den Vorgesetzten der nicht freigestellten Betriebsratsmitglieder wurde nun vom Arbeitgeber die Möglichkeit gegeben, z.B. für jedes Quartal eine Abschätzung der zu erwartenden Betriebsratsarbeit ihrer Mitarbeiter abzugeben. Einige Vorgesetzte konnten so z.B. Halbtagskräfte einstellen, um den tatsächlich für ihre Abteilung vorgesehenen Headcount zu erreichen. Die Kosten für die Betriebsratsarbeit gingen nun nicht mehr auf die Kostenstelle der Fachabteilung, sondern auf eine Kostenstelle der Personalabteilung.

    So kann man das vielleicht nur in einem Großbetrieb mit einem kompetenten Betriebsrat machen, der sich im Arbeitsschutz gut auskennt. In jedem Fall ist diese Geschichte aber ein gutes Beispiel für eine psychische Fehlbelastung, die ausschließlich im Handlungs- und Verantwortungsbereich des Arbeitgebers verursacht wurde und dort dann auch beseitigt werden konnte. Auch zeigt das Beispiel, dass hier keine technischen Maßnahmen wie im "klassischen" Arbeitsschutz getroffen werden musste, sondern eine potentiell krank machende Fehlbelastung wurde durch die Änderung der Kontierung beseitigt. Das klingt "theoretisch", war aber tatsächlich so passiert. Das ist wahrscheinlich für viele Arbeitsschützer noch ein ungewohntes Vorgehen. Vielleicht hatte es deswegen in diesem Fall auch 3 Jahre gebraucht, bis das Problem verstanden und gelöst war.

    Ich habe dieses Beispiel unter "Arbeitsunfälle und Beinahunfälle" und nicht unter OHSAS 18001 gepostet, weil hier der richtige Ort ist, darüber nachzudenken, wie mit jenen potentiell schädlichen Fehlbelastungen umzugehen ist, die im üblichen Sprachgebrauch nicht mit "Arbeitsunfälle und Beinahunfällen" assoziert werden. Auch solche Vorfälle sind aber heute Gegenstand des ganzheitlichen Arbeitsschutzes. Allerdings, ein Foto von einer gesundheitsschädigenden Ausgangssituation kann ich schlecht an dieses Beispiel anhängen. Vielleicht könnte man nach der Problemlösung Bilder von entspannteren Betriebsratsmitgliedern und Vorgesetzten zeigen :)

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